Eröffnungsrede 28.2.1995
„Ich selbst bin der Stoff meines Buches …“, dieses Wort von Montaigne ist das Motto im Begleitkatalog zur Ausstellung. Ich selbst bin der Stoff meiner Kunst, könnte man also sagen. Alle gezeigten Objekte also eine Selbstdarstellung? Reiner Exhibitionismus? Oder geht es um eine Frage, die sich im Grund alle Künstler gestellt haben und die wir alle uns stellen müssen: wenn wir den Sinn unseres Lebens und Leidens nicht verfehlen wollen?
Rembrandt hat weit mehr als hundert Selbstbildnisse gemalt; sich dargestellt als jungen Dandy in modischem Pelzmantel mit Goldkette und Ohrring, als arrivierten Maler auf breitem Thronsessel, aber auch als verlorenen Sohn und als heruntergekommenen Bettler. Und was er anfangs gerne verschönt hatte, seine etwas unförmig geratene, derbe Nase, zeigt er schließlich auch. Und dann malt er sich noch ein letztes Mal – das Bild ist uns in einem Kölner Museum erhalten – : ein altes, verfallenes, von Krankheit gezeichnetes Gesicht mit einem hintergründigen Lächeln, einem Lächeln, wie ich meine, über sich und die Welt. Durch die Hülle der runzeligen, aufgedunsenen Haut scheint da etwas hindurch, ist da eine Transparenz für eine, ich möchte sagen unzerstörbare, transzendente Wirklichkeit.
Ich habe mich angesichts dieser vielen Selbstportraits. die das ganze Leben und Schaffen Rembrandts begleiten, gefragt: Warum mußte er immer wieder in den Spiegel schauen und sein Gesicht malen? Ich kann es mir nicht anders erklären, als daß er sich immer wieder der Frage stellte: Wer bin ich?
Diese Frage stellen wir uns gewöhnlich, wenn wir 16, 17, 18 geworden sind. Wenn wir 20, 25, 30 alt sind, glauben wir zu wissen, wer wir sind. Und dabei bleibt es fast immer.
Rembrandt hätte es auch dabei bewenden lassen können, als es für die Sponsoren seiner Kunst und für die Fachwelt klar war: Rembrandt ist ein großer Meister. Aber Rembrandt bleibt nicht stehen. Er bleibt sich selber treu, auch wie ihn alle fallen lassen. Er fragt weiter: Wer bin ich?
Ist nicht auch in dieser Ausstellung das die Frage, der sich der Künstler fortwährend stellt? Gleich beim 1. Bild wird klar – auch wenn da nur ein Haus dargestellt wird – „daß es sich um ein Selbstportrait handelt.“
Aber warum muß sich da einer so entblößen, seine Wunden, seine Nacktheit zeigen? – Weil wir anderen lieber unser Nacktsein mit schönen und teuren Kleidern verhüllen und statt der verstümmelten rechten Hand lieber die kräftige zupackende linke reichen. Weil wir gar nicht wissen wollen, wer wir wirklich sind. Weil wir lieber Masken tragen und Fassaden herzeigen. Weil wir lieber der sind, der wir für andere sind. Weil es enttäuschend ist, zu sehen, wer wir wirklich sind. Weil es wehtut, das Bild, das wir von uns haben, das andere von uns haben, zu zerreißen. Weil es schmerzt, unsere alte Haut abzustreifen und das Neuwerden zuzulassen. Weil wir um alles in der Welt nicht bereit sind zu sterben, um neu zu werden.
Sterben, das heißt nicht festhalten am Bild, an dem ich mit soviel Mühe gebastelt habe, bis ich der geworden bin, der ich bin: „der Beste, Begabteste, Wildeste“, der etablierte Grafiker und Künstler. Heißt loslassen, aufgeben des Ich-bin-was, von Erfolg und Anerkennung und von den Hochgefühlen, die damit verbunden sind. Sterben, das heißt aber auch zurücklassen und nicht hängen bleiben an Verletzungen, Enttäuschungen, Versagen, an Schuldig-geworden-Sein, am Nicht-mehr-leben-Wollen. „Mit jeder Entwicklungsstufe läßt man mehr“. Und geschieht Verwandlung. Und selbst „der Schmerz verwandelt sich in etwas Kostbares“. So daß ich wissen kann, „daß die Verletzung meiner Hand mein größter Schatz ist“.
Sterben und Werden: Wohin führt uns das Werden? Dahin, daß wir ..Menschen werden: „… Im Scheitern kommt der Mensch zu sich selbst“, sagt uns der Philosoph Karl Jaspers. Im Scheitern, nicht im Erfolg. Ist es nicht so: Im Fortschritt schreitet der Mensch fort von sich selbst? „Bei Eingeständnis der höchsten Ohnmacht“ dagegen kann es „zur höchsten Entfaltung von Menschlichkeit“ kommen. „Verletzlichkeit ist das, was mich am meisten mit jedem Lebewesen verbindet“.
Das ist die Botschaft dieser Ausstellung. So versteht der Künstler seine Kunst: als Verkündigung. So wird der Künstler zum Propheten, zum Künder von Wahrheit, einer Wahrheit, die auszusprechen der Künstler den Mut hat, einer Wahrheit, die wir nicht gerne hören. Weil wir uns lieber verstecken, muß einer hervortreten und die Wahrheit aussprechen, muß sicher einer zeigen als der, der er ist. Das heißt wer wir alle sind.
Kunst soll schön sein, so meinen wir. Und sind zufrieden mit den rosigen Bildern unserer Träume und Illusionen, aus denen wir nicht aufwachen wollen. Da muß erst ein prophetischer Künstler kommen, der durch sein Schicksal sich selbst hat aufwecken lassen, so daß er berufen ist; uns mit seinen Kundgaben wachzurütteln.
Aber kann man das, was wir da zu sehen bekommen, auch wirklich als Kunst bezeichnen? Wenn von Schönheit nicht viel bleibt? Mein Zen-Meister in Japan, zugleich ein begnadeter Künstler, hat über die Kunst folgendes gesagt:
„Wirkliche Kunst entsteht erst dort: wo der Künstler alles aufgegeben hat: die Aussicht auf Ehrung und Anerkennung; den Stolz: die Aussicht auf Geld, das Machen-wollen. Erst dann, wenn er alles aufgegeben hat, kann etwas entstehen, was aus der Tiefe kommt. Echte Kunst kann nur aus der Tiefe kommen… Und echte Kunst erwächst aus der Begegnung mit der Wirklichkeit.“ Als Wirklichkeit hatte er dabei sowohl die äußere Wirklichkeit, wie die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit im Auge, die nur durch die Verbindung mit der eigenen Tiefe erfahren werden kann.
Ich glaube, wenn wir uns das hier Dargestellte und dazu die unverblümten eigenen Aussagen des Künstlers vergegenwärtigen, können wir sagen, daß hier jemand am Werk ist, der Ehrung und Aussicht auf Geld hinter sich gelassen hat: jemand, der sich auf seine eigene Tiefe einläßt; jemand, der sich der Wirklichkeit stellt, der Wirklichkeit seiner selbst und der Welt. Ja: einer, der der „Welt jenseits aller Realität“ nachspürt; der Welt jenseits der Welt, in der wir uns eingerichtet haben und Dauer und Sicherheit suchen, die es doch nicht geben kann. Einer, der, „wenn die Erde ein Ei ist“, sehen kann; „wie die Schale aufbricht“. Einer, der auf der Suche ist nach der transzendenten Wirklichkeit, von welcher „diese Welt gehalten wird; das Leben auf dem Planeten: Sonne, Mond, die Vögel und alle andere Tiere, auch der Mensch in seiner Nacktheit“. Es ist die Wirklichkeit, die in Rembrandts Altersselbstbildnis aufleuchtet und ihm den stillen, heiteren Frieden verleiht. Der Weg, diese transparente Wirklichkeit zu erfahren, geht freilich nur durch Sterben und immer neu Auferstehen.
Wenn wir aber das Unzerstörbare, Unverlierbare, Göttliche in uns entdeckt und erfahren haben, dann und erst dann werden wir in der Lage sein, unsere Nacktheit, unsere Ohnmacht, unsere Verletzlichkeit, unsere Bedürftigkeit anzunehmen und das Immer-wieder-sterben-Müssen und die Vergänglichkeit des Lebens und die scheinbare Vergeblichkeit allen Kämpfens auszuhalten. Und wie ein Kind uns überraschen zu lassen von all dem, was das Leben uns in jedem Augenblick neu schenkt.
Ermin Döll
ERMIN DÖLL, geb. 1936 in Bamberg/Deutschland, lebt in Wien. Theologe und Zen-Lehrer mit Ausbildung bei Meistern in Deutschland und in Japan.