Der Glanz des schönen Scheins -
die faszinierenden Goldarbeiten von Hermann Staudinger
„Licht senden in die Tiefe des menschlichen Herzens – des Künstlers Beruf!“
(Robert Schumann)
von Günther Oberhollenzer
I.
Hermann Staudingers außergewöhnlichen Naturdarstellungen lassen uns staunen. die Motive sind alltäglich und bekannt, doch so haben wir sie noch nicht gesehen. Getragen von einem unnachahmlichen goldenen Glanz erscheinen tiefe, dichte Wälder in flirrend atmosphärischen Lichtstimmungen, Bäume und Nadeln leuchten in sphärischem Schein, die Strahlen der Sonne verfangen sich in vollen Baumkronen und moosigen Böden. eine unmittelbare naturerfahrung ist spürbar, doch die Landschaften bieten – auch wenn längsformate dominieren – keine weiträumigen, romantischen Bildpanoramen. Nah an uns herangezoomt sehen wir nur ausschnitte von Stämmen und Ästen, von Blätterwald und Moosbewuchs; ihrer Körperlichkeit beraubt, erscheinen sie in ihrer grafischen und flächenhaften Struktur bisweilen fast wie abstrakte Formen und Zeichen. Und die Kunstwerke strahlen. in undurchdringlicher Schönheit, in unaufgeregter Komposition, in andächtiger Stille – Bilder wie aus einer anderen Welt.
Staudinger erfreut sich an der unerschöpflichen Formenvielfalt der Natur, ein unbegrenztes Versuchsfeld, um mit Licht und Schatten, Fläche und Raum poetisch wie sinnlich eine neue Wirklichkeit zu erschaffen. unendlich sei der Wald, so der Künstler, und vielleicht ist genau das seine Intention:
der Unendlichkeit mit künstlerischen Mitteln zu begegnen. Die Arbeiten weisen über die flächige Begrenzung hinaus. Stehe ich davor, erahne ich, dass es sich hier nur um einen kleinen Ausschnitt der künstlerischen Wirklichkeit handelt. das Ende der Tafel ist nicht das Ende des Bildes. Das unbegrenzte, unaufhörliche Bild ist nur in einem Ausschnitt darstellbar, denn die menschlichen Möglichkeiten sind begrenzt. Als Betrachter glaube ich, in Bewegung bleibend, mich dem Bild nähernd, dann wieder zurücktretend, einen Schein der Unendlichkeit erhaschen zu können.
Staudingers Kunstwerke erinnern mich – vielleicht ein gewagter Vergleich – an die Lichtmalerei des Pierre Soulages (*1919). Seit den 1990er Jahren beschäftigt sich der französische Künstler hauptsächlich mi Licht und Schatten auf reinschwarzen Bildflächen.
Er erfindet das Wort „Outrenoir“, jenseits des Schwarzen. Die „Outrenoir“-Bilder sind Leinwände, die ganz und gar mit einer dicken Schicht schwarzer Ölfarbe bedeckt sind, ihre reliefartigen Strukturen schaffen Lichtreflexionen, die sich je nach Lichteinfall und Position des Betrachters, der Betrachterin verändern. So schafft es Soulages, mit Schwarz verschiedene Arten des Lichts zu malen. Auch bei Staudinger ändert sich das Erscheinungsbild seiner Werke je nach Blickwinkel und Lichtquelle bzw. -einfall; das kann von Negativ- bis zu Positivansichten reichen, von zwei- bis dreidimensional schimmernden Strukturen, die einen tiefen Raum öffnen und dabei wie von Zauberhand scheinbar aktiv Licht aussenden. Besonders schön und intensiv leuchten die Bilder etwa in fahlem Dämmer- oder flackerndem Kerzenlicht. All diese Seherfahrungen sind allerdings nur vor den Originalen im analogen Raum möglich. ein Kunstbuch ist, so gut Drucktechniken heute auch sein mögen, nur bedingt in der Lage, derlei Eindruck adäquat wiederzugeben. Gold lässt sich nicht – oder nur sehr bedingt – abbilden.
II.
In der frühchristlichen, mittelalterlichen und byzantinischen Kunst ist das Material Gold von zentraler Bedeutung. Im 15. Jahrhundert verschwindet es aber aus den Ateliers und wird erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts von den Künstler*innen als Ausdrucks- und Bedeutungsträger wiederentdeckt. Seitdem erlebt Gold als Farbe und Material eine „Renaissance“, die bis in die Gegenwart andauert. Der Goldgrund (ein aus Blattgold bestehender Malgrund) geht auf die byzantinischen Mosaiken zurück, er wird seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. in der Buch- und Tafelmalerei angewendet und ist besonders bei Heiligenbildern beliebt. Im Mittelalter ist Gold in der Kunst unentbehrlich. Es verleiht den Bildern materielle Kostbarkeit und dient einer feierlich sakralen Erhöhung mit Ewigkeitsanspruch – auch dadurch, dass die dargestellten Figuren vor dem warmen Goldton wie isoliert erscheinen. Der Illusionismus in der neuzeitlichen Kunst stellt eine epochale Wende dar: Leon Battista Alberti schreibt in „Über die Malerei“ von 1435, es sei besser, Gold darzustellen, als es zu benützen. Gold störe wegen seines starken Glanzes die anderen Farben. Die Renaissance in der abendländischen Kunst des 16. Jahrhunderts lässt mit der Zentralperspektive für Goldhintergründe keinen Platz mehr, und so müssen sie landschaftlichen Elementen weichen (während die byzantinisch-russische Ikonenmalerei den Goldgrund beibehält). Gold verschwindet bis auf wenige, lange zeit dafür stigmatisierte Werke aus der Kunst. Im Barock wird zwar vieles vergoldet, um Reichtum und Macht prunkvoll zur Schau zu stellen, aber Gold nicht als malerisches Mittel verwendet. erst Mitte des 20. Jahrhunderts beginnt mit dem neuen Realismus von Yves Klein und Robert Rauschenberg wieder ein arbeiten mit Gold. Klein verbindet damit – wie mit seinem berühmten Blau – eine religiöse Metaphysik und die Idee von der kosmischen Leere. Rauschenberg ist der erste, der sich rein für das Material interessiert. Dieses Interesse nimmt in den letzten Jahrzehnten in der Kunstszene wieder zu und gipfelt in Österreich in der von Thomas Zaunschirm kuratierten ausstellung „Gold“ im Wiener Belvedere (2012) mit rund 200 Werken von 125 Künstler*innen, darunter zahlreiche zeitgenössische Positionen. auch Hermann Staudinger ist mit Werken vertreten.
Heute arbeiten so viele Künstler*innen mit Gold wie seit dem Mittelalter nicht mehr. Im Katalog
zu „Gold“ heißt es, dass man mit der Ausstellung eine „grundsätzliche Revision“ der Vorstellung von Gold in der Kunstgeschichtsschreibung anpeile, denn schließlich gehe dessen Verwendung weit über das Sakrale und Transzendentale hinaus. Zusätzlich gebe es rund um das Gold in Kunst immer wieder eine eingeschränkte Sicht oder auch Vorurteile: Gold sei kitschig, ornamental, traditionell, kunstgewerblich, elitär, sakral. Vorurteile, die bisweilen wohl auch stimmen mögen und mit denen zeitgenössische Künstler*innen gerne spielen.
Staudingers Umgang mit Gold ist hingegen von Ernsthaftigkeit und Wertschätzung getragen.
Er weiß um die kunstgeschichtliche Bedeutung dieses so besonderen Materials, um seine starke Anziehungskraft und Faszination. Er weiß um seine anhaltende Kostbarkeit und Beständigkeit, seine transzendentale Aufladung, seine einzigartige Licht- und Farbwirkung. Er weiß um die altmeisterlichen (restauratorischen) Techniken der Goldbearbeitung und -verfeinerung. Und er weiß all das für seine Kunstwerke zu nützen, in eine sehr persönliche, zeitgenössische Bildsprache umzusetzen. Das Gold als Bildträger (24 Karat gold, aber auch 12 Karat Weißgold) ist für Staudinger schon seit vielen Jahren zentralesThema und starker Antrieb seiner arbeit, es zieht ihn in seinen Bann, zugleich will er es aber auch bändigen.
III.
Am Beginn der künstlerischen Arbeiten der „Goldgrundprägungen“ stehen gefundene Fotografien von Pflanzen, Tieren oder auch Menschen, die am Computer digital verändert werden, sodass sie kontrastreiche Schwarz-Weiß-Bilder ergeben. Diese werden in Großkopien ausgedruckt, auf eine per Hand blattvergoldete Holzfläche gelegt bzw. über die Fläche geschlagen und dann akribisch genau durchgepaust. Alle schwarzen Bildanteile werden mit einem harten Bleistift fein schraffierend in die goldene Fläche übertragen. der Bleistift drückt die Oberfläche des Goldes leicht ein – in dieser Vertiefung wird, nach Abnahme der Vorlagenkopie, das reflektierte Licht gebrochen. So entsteht ein zart reliefartiges Bild, das ohne jegliches Farbpigmente seine Wirkung entfaltet.
Wie kann diese Technik bezeichnet werden? Sie ist der Frottage und Grattage verwandt, beides Techniken, die vom Künstler Max Ernst (1891-1976) entwickelt wurden. eine Frottage (von frz. frotter reiben) oder auch Abreibung bezeichnet die grafische Technik, ein Oberflächenrelief eines Gegenstandes mittels eines Wachs- oder Bleistiftes auf ein darüber gespanntes Blatt Papier zu übertragen. unter grattage (frz. gratter abkratzen) versteht man das künstlerische Verfahren, bei dem mit einer Klinge übereinander aufgetragene Malschichten weggekratzt bzw. abgeschabt werden und auf diese Weise neue Farbformen entstehen. Näher
ist Staudingers Verfahren der Grattage, besser sollte man aber von einem händisch ausgeführten Unikatdruck oder einer Goldprägung sprechen. Seit 1999 arbeitet der Künstler in dieser, wie er betont, selbst erfundenen Technik.
„Es steckt viel Lebenszeit drinnen, in den unzähligen kleinen Strichen...“, so Staudinger. Das ist auch in der Betrachtung spürbar. Der technisch aufwendige (Schöpfungs-)Prozess, die akribische genaue zeichnerische Übertragung verleihen den Werken eine hohe dichte, die vom Künstler aufgewendete, verbrachte zeit scheint in den Bildern eingeschrieben zu sein. die vielen feinen linien fügen sich im Betrachter*innenauge zu einer Bildkomposition zusammen und etwas Feinstoffliches, Nichtgreifbares schwingt mit, das den Kunstwerken eine emotionale Tiefe verleiht, die nur schwer in Worte zu fassen ist. Der Künstler imaginiert sich seine eigene Welt mit selbst erwähltem Regelwerk und Gesetz, wobei das Kunstwerk nicht in seinem materiellen Zustand verharrt, sondern über sich hinaus auf etwas Geistiges, jenseits der sinnlichen Erfahrung Liegendes verweist. „Man muss diese arbeiten so ansehen, dass das Gold aufglänzt“, schreibt Gustav Schörghofer über die Arbeiten Staudingers. „das aufglänzende Gold ist dann nicht einfach eine Farbe, sondern es weitet sich zu einem Raum, einem Lichtraum könnte man sagen, und es steht – deshalb der Hinweis auf das Transzendieren – für eine Herkunft der Dinge und für eine Hinkunft der Dinge – also für einen Raum, der anders ist als der physikalisch erfahrbare, in dem wir uns befinden. Insofern ist das Gold natürlich immer etwas, das mit dem Heiligen in Verbindung gebracht wird.“
IV.
„Goldwand“ nennt Staudinger eine Werkserie, an der er beständig seit 2014 arbeitet. Die abstrakt reduzierten Bilder strahlen mit ihren kleinteiligen quadratischen Mustern eine rätselhafte Aura aus und changieren zwischen Vergangenheit und Gegenwart – sie wirken alt und neu zugleich. Der Künstler bedient sich einer traditionellen, altmeisterlichen Technik und erschafft doch etwas Neues, so noch nicht Gesehenes.
Es handelt sich um eine Polimentvergoldung. Sie ist die edelste und traditionsreichste Vergoldungsart, aber auch eine handwerklich sehr aufwendige Technik und benötigt große Erfahrung. Die häufigste Anwendung findet sich bei christlichen Figuren und prunkvollen Bilderrahmen und ist auf saugenden Untergründen wie Holz, Gips oder Stuck möglich. Die Polimentvergoldung entsteht in mehreren Arbeitsschritten. Sie beginnt mit dem Auftrag der Leimtränke, daran schließt sich der Aufbau des Kreidegrunds an. Als direkter Träger des Blattgoldes dient das Poliment. Es handelt sich hierbei um einen feinen, aufwendig vorbereiteten und geleimten Ton, ein Erdpigment, meist in Rot, bisweilen auch in Gelb oder Graublau. Die Netze, ein verdünnter Alkohol, löst den Leim an, und bringt das mit Pinseln angebrachte Blattgold zum Kleben und zu einer guten Haftung am Untergrund.
„Entscheidend für diese minutiös gefertigten Werkstücke ist, dass ihre Vergoldung mit unzähligen kleinen Blattgoldstückchen vorgenommen wurde“, erzählt der Künstler. „Bei einer Größe von 120 x 120 cm werden so rund 5.000 Blättchen im Format 2 x 2 cm aufgebracht.“ Ist die Fläche fertig vergoldet, nimmt Staudinger die oberste Werkschicht mit einem extra feinen Schleifvorgang wieder ab (auch das eine traditionell bewährte Technik). der färbige, zum Beispiel rötliche, Poliment-Untergrund scheint durch und das Gold strahlt nur mehr dort, wo es sich überlappt, also doppelt aufgetragen wurde. So entsteht die typische netzartige Struktur.
Es überrascht nicht, dass der Künstler den US- amerikanischen Farbfeldmaler Ad Reinhardt (1913- 1967) als ein Vorbild nennt. In den konstruktiv- geometrischen Bilder beschränkt Reinhardt seine Farbskala auf ein chromatisch enges Spektrum, zum Beispiel auf Rottöne. Nach 1953 schuf er ausschließlich Black Paintings, die er als „Meditationstafeln“ verstand: schwarz abgetönte, rechteckige Bilder mit kreuzartigen Rechteckformen,
die indessen kaum noch wahrnehmbar sind. Erst bei genauer Betrachtung sind feinste Abstufungen in den Farbstrukturen zu erkennen. die konzentrierte Reduktion und das Spiel zwischen Sichtbarkeit und Verschwinden beherrscht auch Staudinger.
Die großen Flächen seiner Bilder ermöglichen ein ganzheitliches „Eintauchen“ der Betrachter*innen
in weite, endlos wirkende Lichträume – Räume der Entschleunigung und Stille, in denen Auge und Geist in einem „interesselosen Wohlgefallen“ (Immanuel Kant) verweilen können.
„Meine Arbeiten sind ein Atem, der vieles durchdringt“, sagt Hermann Staudinger. Er erschafft Bilder von wohltuender Schönheit, mit denen er den Idealen der Harmonie und Sorgfalt, der Umsicht und Feinheit entsprechen möchte. Das Gold sei dabei wie ein Fenster, das aufgemacht werden muss, um Luft hereinzulassen. Das Gold ist aber stets auch anziehend und verführerisch. Den frischen Wind dieser Kunstwerke spüren wir bereitwillig, und so lassen wir uns auch gerne verführen.
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Die Zitate von Hermann Staudinger stammen aus persönlichen Gesprächen des Autors mit dem Künstler (2021/2022) sowie von dessen Website, ebenso wie das Zitat von Gustav Schörghofer.
Der Katalog „Gold“ zur gleichnamigen Ausstellung im Belvedere ist 2012 im Hirmer Verlag, München erschienen.