Da sein: Schlangengrube

Da sein, Ausstellung im öffentlichen Raum
Linz 1996 
Auszug aus dem Katalog

Jeder hat eine Schlangengrube in sich, eine versteckte, dunkle Enklave für wilde Tiere des Hasses, der Verstörung, der Angst, die der Schmerz, die Hölle der eigenen Herkunft und Erziehung nur in diesem dunklen Verlies, weitab des klärenden Tageslichtes, ablegen und gebären konnte.

Es sind ungewollte Kinder, deren Geburt, deren vollständige Präsenz die eigene Existenz zerstört hätte. So warten Sie in diesem Loch, dem einzigen Raum im Menschen, in dem sie versteckt werden konnten, auf das mutige, starke und unerschrockene Selbst, um sie ins Leben zu bringen. Sie wissen nichts davon, daß sie in den Augen der Welt als böse gelten, sie leiden stumm und warten auf den Moment ihrer Befreiung und Erlösung, gelegentliche Schreie der Klage durch den Organismus stoßend, unmerkliches Wimmern, das allzuleicht als Sodbrennen oder Herzstechen mißdeutet werden kann und meist auch wird.

Ist der Mensch zu sich gekommen, hat er erst (oft unter Schmerzen) verstanden, daß es nichts Böses in ihm geben kann, daß es nicht nötig ist, sich gegen sich selbst zu verschanzen, weil es keinen Feind geben kann in einem Universum der Liebe, erst dann kann dies geschehen:

Mit forschendem Schritt beginnt das Selbst, das eigene Reich zu durchmessen. In jeden Schrank wird geschaut, unter jedes Staubkorn geblickt mit liebendem, klärendem Auge. Auch die Kellertüren öffnen sich und erhellt vom Licht der Zuneigung und Liebe zu allen Arten des Lebens, allen Formen, wird auch die Schlangengrube entdeckt; hinter einem Berg abgelegter Akten zu nicht endenden Berufungsverfahren gegen Abschiebung und Weglegung des ungewollten Lebens.

[Die Gerichtsverfahren zu diesen Akten haben einst eine Eigendynamik entwickelt, als das Denken glaubte, massiv eingreifen zu müssen und eine Unzahl von Spezialisten herbeizog, die mit einer Anhäufung von Diagrammen, Tabellen, Kurven und Zahlen das verdrängte Leben untersuchen sollten, welches auf sein Recht pochte mit schmerzendem Wimmern hinter der Verliestür.

Die Spezialisten verloren während ihrer endlosen Untersuchungen das Interesse an ihrem Gegenstand und bauten sich aus den verwendeten Zahlenreihen eigene Schlüsse, die bewiesen, daß es außerhalb dieser Reihen kein Leben geben konnte und durfte, weil es von ihren Untersuchungsgeräten, eine Unzahl elektromagnetisch-chemisch-physikalischer Apparaturen, so angezeigt wurde.

Nur hin und wieder verirrte sich ein Gerichtsdiener mit einem Bündel Akten zum Verlies. Da ihn in seiner Kammer das Wimmern der Kreaturen störte (von denen die wenigsten Genaueres wußten – man munkelte von einem, der sie zu Gesicht bekommen haben sollte durch einen Spalt in der Verliestür, und der soll von riesenhaften Schlangen gesprochen haben mit weißlich-schimmernden Häuten), um also diese Klagelaute nicht vernehmen zu müssen, begann der Diener kurzerhand damit, mit Aktenbündeln die Tür zuzumauern.]

Zurück zu unserer Geschichte: Nun entdeckt das Selbst hinter dem Aktenberg die Tür zum Schlangenloch. Nachdem sein Blick über die Diagramme und Tabellen gewandert ist, es aber von Wissenschaft und kausalen Schlüssen nichts versteht, öffnet es die Tür zum Kerker, im Vertrauen auf die eigene Stärke alle Warnschilder wie: “Vorsicht Ungeheuer!" oder “Höchste Todes- und Lebensgefahr!" ignorierend. Nur schwach und leise dringt ein Wimmern an sein Ohr als es die Tür aufmacht, die, obwohl sie mit zahllosen Schlössern gesichert scheint, sich bereitwillig mit einem leichten Druck auf die Türschnalle öffnen läßt.

Was sieht unser Held jetzt, im Licht, das durch die geöffnete Tür fällt? – Der Boden, die Wände, die Decke, alles ist übersäht mit blinden Raupen, welche zwar Ähnlichkeiten mit Schlangen aufweisen, aber um einiges kleiner sind und keinerlei Bedrohung ausstrahlen.

“Und Euch hat man hier weggesperrt, jede von Euch das Kind einer unglücklichen Geschichte. Ich werde Euch erlösen." Und er nimmt eine nach der anderen, ohne Unterschied, auch die großen mit der durchsichtigen Haut. die wie verkümmerte Embryonen aussehen, und trägt sie über die Treppe nach oben ins Freie. Dort legt er sie in den Schatten, bettet sie weich auf grünen Blättern und sieht mit Freude, wie nach kurzer Zeit einige beginnen sich auszurollen und an den Blättern zu essen.

Am nächsten Morgen, nach einem traum-losen Schlaf, tritt das Selbst aus seinem Haus, dem Herzen, und sieht es überdeckt von weißen Kokons. Die Raupen haben sich also verpuppt, das Leben ist weitergegangen. Und dann, eines Tages, schlüpfen sie aus, Schmetterlinge in allen Farben, Größen. Manche mit durchsichtigen Flügeln, goldenes Licht reflektierend, andere dunkelblau leuchtend wie die See. Und einer nach dem anderen hebt sich in die Luft. Als alle geschlüpft sind, versammeln sie sich vor dem Haus, und der größte von Ihnen, ein golden-wässrig leuchtender Falter von zerbrechlichster Haut, spricht:

“Wisse, daß wir nur Deinetwegen in diesem Kerker am Leben geblieben sind. Wir wußten. Du würdest kommen eines Tages, Dein Versprechen einlösend, das Du uns als kleines Kind gegeben hast. Vielleicht weißt Du es nicht mehr – wir alle haben mit Dir gespielt, bevor Du in die Schule des Ichs mußtest und in Deinem Leben kein Platz mehr für uns war. Von jedem einzelnen von uns hast Du Dich noch verabschiedet und ihm zugerufen “Ich hol Dich raus, wenn ich groß bin".

Jetzt ist unsere Zeit gekommen, wir fliegen zurück in die Sonne, Dir voraus. Wisse, daß unsere Liebe zu Dir ewig ist und wir immer ein Teil voneinander sein werden. Sei Du selbst, ein Leben lang." Mit diesen Worten verabschiedete sich die Schar, flog auf und hob sich in den Himmel.

Und das Selbst? – Es hatte sein Reich durchmessen, alles aufgeräumt, geputzt und in Ordnung gebracht (das Verlies war jetzt ein Weinkeller). In der warmen Abendsonne sitzt es auf der Bank vor seinem Haus und wartet auf den Herzensfreund, den es auch vor langer, langer Zeit verloren hatte, mit dem Versprechen, sich wiederzusehen am Ende der Zeiten.

Aber das ist eine andere Geschichte.