Die Gebetsfahnen stehen im Wind. In Rot, Gelb, Orange, Blau, Grün und Weiss tragen sie Buddhas Gebete durch das Hochtal. Blau der Himmel über uns, in unglaublicher Brillanz und Schärfe die Farben, ein unendlich hoher und weiter Raum, in dem Felsen, Gebete, Menschen, Tiere und Pflanzen sich zusammengefunden haben zu – so scheint es dem Wanderer – einem einzigen großen Gebet, einer Ode an die Schöpfung. Wir befinden uns im Himalaya, in Jomsom im Annapurna-Massiv, der welttiefsten Schlucht, wie die nepalischen Guides nicht müde werden zu betonen. Im Osten der Dauhlagiri, der Fischschwanzberg (weil sein Gipfel einer Flossenform ähnelt), gegenüber die Annapurnas 1-8 (bei 36 Bergen hat man aufgehört nach neuen Namen zu suchen), daneben viele weitere Berge, die sich weit über 7000 Meter in den offenen Himmel schieben. Es fällt schwer, bei diesen weiträumigen Dimensionen von einer Schlucht zu sprechen. Hier in Jomsom, auf 2.500 Metern befindet man sich auf einer Hochebene, dem Flußbett des Khali Kandaki, einem jahrhundertealten Pilgerpfad und dem wohl meistbegangenen Trek im Himalaya.
Schon Mitte der 60er Jahre wurden in der heutigen Annapurna Conservation Area, die ersten Lizenzen an Guest Houses bzw. Lodges vergeben und in der Hochblüte der Hippie-Zeit wagten sich die ersten Westler in den Himalaya – sicher nicht zuletzt deswegen, weil im hinduistischen Königreich Nepal Haschisch offiziell erhältlich war (die unzähligen Pilgerwege und Heiligtümer im Himalaya ziehen viele Sadhus, heilige Männer aus dem nahen Indien an, von denen vor allem die Shiva-Anhänger gerne dem wiederholten Rauch-Opfer fröhnen).
Unter diesen ersten Besuchern aus dem Westen war der Sadhu der E-Gitarre, Jimi Hendrix. Offensichtlich war Hendrix mit einem Sinn für schöne Orte begabt, in denen es nicht an Hanfprodukten mangelte: in Essaouira, der malerischen Hafenstadt an der marokkanischen Atlantikküste, steht die vom Musiker besuchte „Jimi Hendrix Villa“. Im Oktober 1967 nahm er mit einen Freund und 4 nepalischen Helfern – als Sherpa bezeichnet man korrekterweise nur einen Volksstamm der v.a. im Gebiet des Mount Everest lebt – den langwierigen aber doch leicht zu gehenden Aufstieg nach Jomsom auf sich.
Aber zurück zu den Ursprüngen dieser Geschichte, drei Jahre zuvor: Muktinath ist das Ziel der Pilger und Wanderer, ein kleines Örtchen auf 4.300 Metern Höhe. Hier entspringt der Bergfluß Kali Kandaki, das Quellwasser wird durch 108 kupferne Stierköpfe gespeist, und hier ist der place of worship der Hindus und Buddhisten. Im Tempel wird die alte Überlieferung verehrt, die in Muktinath den Ort der Vereinigung des Gottes Shiva mit seiner Gefährtin Parvati sieht. Im Buddhistischen Heiligtum dringen zwei natürliche Methangasflammen aus dem Boden, eine vorher existierende dritte ist bereits erloschen.
Trifft man auf indische Pilger, erklären sie, daß eine dreifache Umrundung des Shiva- Tempels mit ritueller Waschung in der Quelle jeden Menschen von schlechtem Karma reinige. Die aus Unwissenheit oder Verblendung gesetzten negativen Handlungen erfahren hier Absolution. Unter dem hohen Himmel, der klaren Luft und den erleichtert wirkenden Zügen der Pilger, eingebettet in den friedlichen Hain des Heiligtums mit seinen unzähligen Gebetsfahnen und frisch gepflanzten Bäumchen, läßt sich so etwas glauben.
Kehrt man zurück in den kleinen Ort, ist man wieder von Profanerem umgeben: Kunsthandwerk für uns Touristen, Schals, eine Kontrollstelle des Naturschutzgebiets und Guest Houses und Restaurants für die am Saisonhöhepunkt bis zu 500 Wanderer am Tag.
Ich hatte an meinem Tag dort das zweifelhafte Vergnügen, einem jungen Kanadier zuzuhören, der glaubte, seine Umgebung beeindrucken zu müssen. In urbanem Umfeld durchaus nicht ungewöhnlich, war dieser Vortrag in der paradiesischen Klarheit des Himalaya doch ärgerlich. Der nepalische Guide, der unseren altklugen Jungen begleitete, tat mir leid. Ich fragte ihn, wie das so sei, für so einen Chef arbeiten zu müssen, und seine Antwort war von der typischen asiatischen Gelassenheit geprägt, die immer mit einem „No problem“ beginnt. Er müsse ja nicht alles hören, was sein Kunde zu sagen habe, und in ein paar Tagen, nach Ende des Treks, trenne man sich ohnehin wieder. Wie erstaunt war ich also, als mich 2 Tage später derselbe Guide alleine und leichtfüßigen Schrittes überholte. Santaman, so sein Name, hatte seinem Dienstgeber gekündigt!
Das mußte gefeiert werden und er führte mich in die Tak-Khola Lodge, the place where Jimi Hendrix stayed in 1967. Der stolze Besitzer Mankeshar Takhali, ein musischer Mensch und Betreiber der Lodge, fragte im Zuge unserer Unterhaltung ob mir die Musik von Jimi Hendrix gefalle. Ehrfürchtig legte er eine alte Casette in den Recorder und lauschte konzentriert der Hendrix'schen Musik. Was diesen Moment so berührend und skurill gestaltete war, daß die Casette eierte und die Stromschwankungen der Elektroleitung ebenfalls für unterschiedliche Abspielgeschwindigkeiten sorgte. Zu Hendrix’ Wah-Wah Effekten kamen also noch zwei außermusikalische dazu, dennoch lauschte Mankeshar als wäre er durch diese Musik direkt mit seinem Gott verbunden. In gegenseitiger Sympathie versprach ich Mankeshar, bei meinem nächsten Besuch ein Bild von Hendrix auf einer Wand im Jimi Hendrix Rooftop Restaurant anzubringen.
Drei Jahre später: Mit der nach meinen Direktiven angerührten orangen Farbe im Rucksack, nach 12-tägiger Wanderung und Überwindung des Throng-La Passes auf 5.400 Metern, erreiche ich Jomsom, um mein Versprechen einzulösen. Wie erschütternd die Nachricht der Familie, daß der 53-jährige Man Keshar zwei Tage zuvor plötzlich an Gehirnschlag verstorben ist. Am selben Tag ist sein Leichnam verbrannt worden und die Lodge ist voll von Trauergästen. Shailendra, der Neffe und älteste Nachkomme im Clan, meint, dem tibetisch- buddhistischen Glauben nach sei die Seele des Verstorbenen noch unter ihnen, und Man Keshar würde die Einlösung meines Versprechens noch mitbekommen. Allerdings wäre nur ein Tag Zeit, da Tags darauf die nächste Zeremonie stattfände.
Was tun mit einer in Kathmandu vergessenen Bildvorlage? Diverse Faxversuche aus der Hauptstadt scheitern und im Haus, dessen Restaurant Jimi Hendrix den Namen gab, ist nach langer Suche grade nur ein kleines Bild des Musikers aufzutreiben. Bewaffnet mit Bleistift und Radiergummi begebe ich mich auf ein behelfsmäßiges Gerüst und übertrage das Bild mit Rastertechnik auf die Wand. Die im Haus verbliebenen Verwandten und zwei für die Bestattung engagierte Mönche verfolgen interessiert den Fortschritt der Arbeit. Arju, Mankeshars jüngste Tochter ist mir behilflich. Die 7-jährige spitzt den Bleistift, hält die Vorlage, reicht mir die Farbe. Ohne viel Worte sind wir einander vertraut und freuen uns am Ende des Tages über ein gelungenes Werk.
Die Familie ist zufrieden, ich bin Gast bei der Puja, der Totenzeremonie am nächsten Tag. Da Mankeshar, so Shailendra, nicht mehr körperlich anwesend sei, aber eine große Sehnsucht nach seiner alten Existenz verspüre, müßten seine Freunde und Verwandten auch für ihn mittrinken und -essen. Im Zeremonieraum der Männer ist die Lederjacke des Verstorbenen aufgestellt, seine Uhr, sein Schmuck und seine Brillen. Alle verbeugen sich wiederholt vor dem imaginierten Verstorbenen, nach der rituellen Zeremonie wird gegessen und getrunken bis zum Umfallen. Rakshi, ein nach Sake schmeckender Schnaps wird in Plastikkanistern herumgereicht, die Leute sind fröhlich und guter Dinge, unvorstellbar wie selbst des Verstorbenen jüngste Kinder wohlgemut und offen in den Tag lachen.
Die einzige Person, die an diesem Tag wirklich – auch im westlichen Sinn – verzweifelt trauert, ist die 47-jährige Frau Mankeshars. Im dunkelsten Teil des Hauses, der ebenerdigen Küche, hat sie sich verkrochen und bekommt Beistand und Unterstützung von ihren Schwägerinnen und Kindern. Unter Tränen bittet sie mich um Hilfe für die Erziehung ihrer Kinder. Vom Rakshi benebelt, dennoch bei klarem Verstand beschließe ich, so weit es mir möglich ist für eine gute Schulbildung Arjus zu sorgen.
Die Menschen im Land des Schnees sind von ausgesuchter Gastfreundschaft und Höflichkeit. Jederzeit kann der Gast in die Familienküche, bekommt ein Baby in die Hand gedrückt, wärmt seine Hände am gemeinschaftlichen Feuer. Das Leben ist einfach und kostbar, der Raum unermeßlich, die Menschen warmherzig und stolz. In einem der ärmsten Länder der Welt liegt großer Reichtum. Und fallen derzeit auch die dunklen Wolken politischer Unruhen über dieses schöne Land, so sollte man sich davon nicht abhalten lassen, dem Land am Himalaya einen Besuch abzustatten. Die Menschen dort brauchen Geld zum Leben und zumindest ich habe dafür unvergeßliche Momente geschenkt bekommen. Wer nie im Himalaya war, hat eine der schönsten Seiten des Lebens verpaßt.
P.S.: Als Hendrix in der Tak-Khola Lodge weilte, hat er einen Spruch auf eine Mauer geschrieben. Mankeshar hat ihn renoviert, als ihn ein Hochwasser wegriss: „If I don’t meet you in this world, I’ll meet you in the next one. Don’t be late.“ Ich weiß, daß sie sich getroffen haben.